Gesicht und Gehirn

Zur Neuropsychologie der Gesichtserkennung

Schon Neugeborene wenden sich einem Gesicht zu, denn es gehört zu den wenigen visuellen Reizen, die sie einordnen können, ohne sie lernen zu müssen. Nach ganz kurzer Zeit schon erkennen sie ihre Mutter. Sie merken, ob jemand sie ansieht. Sie freuen sich, wenn man sie anlächelt. Gesichter sind ihr wichtigster Halt in einer noch unbekannten Welt.

Gesichter prägen sich ein. Auf den Wahlplakaten der Parteien finden wir kaum jemals das Programm, sondern nur einen markanten Satz und die Gesichter der Kandidaten. Ihr Aussehen und das Geschick der Photographen entscheiden die Wahl ebensosehr wie alle Versprechen der Parteien.

Was die meisten Menschen als selbstverständlich hinnehmen, hat die Wissenschaftler und Philosophen von je her fasziniert. "Wer würde ... nicht sehen, dass bei der unendlichen Vielzahl der Menschen ..., so die einzelnen einzelne Gesichter haben, dass wenn sie unter einander nicht ähnlich wären, ihre Aussehen nicht von anderen Lebewesen zu unterscheiden wäre, und wiederum, wenn sie unter einander nicht unähnlich wären, die einzelnen nicht von anderen Menschen zu unterscheiden wären?" überlegte schon der Kirchenlehrer Augustinus vor fast 1600 Jahren.

Lange Zeit blieb den Wissenschaftlern nichts anderes übrig, als die Leistungen unseres Gehirns erst einmal zu sortieren, denn die genaue Funktion des Gehirns blieb ihnen verborgen. Sie fanden heraus, dass uns ein Gesicht ganz verschiedene und voneinander unabhängige Informationen über andere Menschen liefert, und zwar mit erstaunlicher Genauigkeit. Wir erkennen andere Menschen noch nach 20 Jahren wieder, können also die Spuren der Zeit von einem Gesicht abstrahieren. Irgendwo hat unser Gehirn eine alterslose Version eines Gesichts gespeichert, eine Grundtyp, dem die Zeit nichts anhaben kann, und der Jahrzehnte lang präsent bleibt.

Aber auch wenn wir einen Menschen nicht kennen, entnehmen wir einem Gesicht erstaunlich viele Einzelheiten. Wir wissen, ob unser Gegenüber jung oder alt, Mann oder Frau ist, ganz gleich, ob es ein Weißer, ein Schwarzafrikaner, ein Chinese oder ein Australischer Ureinwohner ist. Dieses Wissen ist uns angeboren; schon Babys reagieren auf Frauengesichter anders als auf Männergesichter. Ebenso universell und selbstverständlich ist das Lesen der Gefühlslage. Nichts ist anziehender als ein Lächeln, und kaum etwas wirkt bedrohlicher als ein wütendes Gesicht.

Aber das ist noch nicht alles: Wenn wir uns mit jemandem unterhalten, dann wissen wir genau, wohin er blickt. Ein Wissenschaftlerteam hat festgestellt, dass wir die Blickrichtung unseres Gegenüber auf 5° genau bestimmen können.

Soviel die Menschen auch lernen müssen: Das Erkennen und Verstehen von Gesichtern als Grundlage ihres Miteinanders wird ihnen bei der Geburt bereits auf den Weg gegeben.

In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Neurowissenschaft gelernt, dem Gehirn mit dem EEG oder mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) sozusagen bei der Arbeit zuzusehen. Dabei haben die Forscher festgestellt, dass einige Regionen unseres Gehirns ausschließlich auf Gesichter reagieren. Im EEG läßt sich ein Ausschlag (die soganannte N170-Welle) beobachten, der nur auftritt, wenn die Versuchsperson ein Gesicht sieht. Mittels fMRT läßt sich nachweisen, dass bestimmte Bereiche im Schläfenlappen und im Hinterhauptslappen des Gehirns ganz besonders auf Gesichter ansprechen. Die Nervenzellen im Mandelkern reagieren dagegen heftig auf Gesichter, in denen sich Wut oder Angst spiegeln.

Unser Gehirn sortiert offenbar seine optischen Eindrückevon Anfang an nach Gesichtern und Nicht-Gesichtern, bevor es sie weiter bearbeitet. Das lässt sich auch bei Patienten mit Gehirnschäden nachweisen. Nach einem Schlaganfall kann es vorkommen, dass der Kranke alles in seiner Umgebung richtig erkennt, nur Gesichter sind ihm plötzlich unbekannt, nicht einmal seine Frau und seine Kinder erkennt er wieder. Prosopagnosie (von den griechischen Worten Prosopon - das Gesicht und Agnosia - das Nichterkennen) nennen die Ärzte diesen Erinnerungsausfall. Er ist seit langem bekannt, die ersten wissenschaftlichen Beschreibungen stammen schon aus dem 19. Jahrhundert.

Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass es eine Gesichtserkennungsschwäche auch als angeborene Wahrnehmungsstörung gibt. Sie betrifft erstaunlich viele Menschen, vermutlich fast ebensoviele, wie unter einer Schreib-Lese-Schwäche leiden. Das Phänomen ist erblich, in den betroffenen Familien hat durchschnittlich jeder zweite damit zu kämpfen. Trotz seiner Häufigkeit ist das Phänomen aber selbst unter Fachleuten kaum bekannt. Dabei hat es durchaus immer wieder Beschreibungen davon gegegen, wie zum Beispiel diese:

Mein Großvater fand es schwierig seinen Mitmenschen zu erkennen, sogar seine Verwandten, wenn er sie unter unerwarteten Umständen traf. Einmal, als er bei einer Hofzeremonie hinter dem Thron stand, bemerkte er einen jungen Mann, der ihm zulächelte. "Wer ist mein junger Freund?", fragte er flüsternd einen Nachbarn. "Ihr ältester Sohn", antwortete der Nachbar.

Diese Anekdote hat David Cecil über seinen Großvater, Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil (kurz: Robert Cecil) geschrieben, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts über viele Jahre hinweg Premierminister von Großbritannien war.

Wie auch Robert Cecil machen die meisten Menschen mit angeborener Prosopagnasie eine normale Karriere und sind auch in ihrem privaten Umfeld kaum beeinträchtigt. Sie entwickeln schon früh die Fähigkeit, andere Menschen an ihrer Stimme, ihrem Gangbild, ihrer Kleidung oder ihrer Frisur zu erkennen. Das funktioniert nicht immer reibungslos, und so haben die meisten einen ganzen Satz vorbereiteter Entschuldigungen parat, wenn sich jemand beschweren sollte.

Die angeborene Prosopagnosie stört nur die Erkennung der Identität anderer Menschen, sie beeinträchtigt nicht die Fähigkeit, Geschlecht, Gefühle oder Alter aus dem Gesicht zu lesen. Wie sehr die Erkennung von Gesichtern mit den Gefühlen für andere Menschen verbunden ist, zeigt eine andere, sehr viel tiefgreifendere Störung: Das seltene Capgras-Syndrom (benannt nach dem französischen Psychiater Jean Marie Joseph Capgras, der das Phänomen als erster beschrieben hat). Es tritt nach einer Schädigung des Gehirns oder im Rahmen schwerer psychischer Erkrankungen auf. Die Betroffenen glauben fest daran, dass ihre Angehörigen und Freunde nicht mehr sie selbst sind, sondern durch genau gleich aussehende Doubles ersetzt wurden. Man kann den Kranken diese seltsame Idee nicht ausreden, sie halten unbeirrbar daran fest.

Erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler herausgefunden, welche Störung dieser Wahnvorstellung zugrundeliegt: Capgras-Patienten erkennen zwar bekannte Gesichter, aber sie fühlen keine Vertrautheit mit bekannten Personen. Die Nervenbahnen zwischen Erinnerung und Gefühl sind bei ihnen gerissen. Ihr Gehirn muss damit zurechtkommen, dass es einen Menschen als Ehepartner, Vater oder Mutter identifiziert, aber keinerlei Vertrautheit fühlt. Die Patienten mit Capgras-Syndrom lösen diesen inneren Widerspruch, indem sie sich eine bizarre Außenwelt erschaffen. Nur in dieser gespenstisch veränderten Umgebung stimmt ihr Gefühl wieder mit ihrer Erinnerung überein.

Man kann die Bedeutung von Gesichtern für unser Zusammenleben mit anderen Menschen kaum überschätzen. Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass unser Gehirn die sichtbare Welt in Gesichter und Nicht-Gesichter teilt. Gesichter sind unsere halbe Welt, und nichts ist furchtbarer, als sein Gesicht zu verlieren, sei es wirklich oder im übertragenen Sinne. Das Gesicht ist der Ausweis und die Ursprache des Menschen, die einzige Sprache, in der noch immer alle Menschen miteinander reden können.

Verfasser: Dr. Thomas Grüter.
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